Gewalt verstehen: Unterschiedliche Gewaltdynamiken

Gewalt hat viele Gesichter. Wer diese Behauptung überprüfen möchte, braucht nur eine Zeitung durchzublättern: Darin finden sich Mobbing am Arbeitsplatz, Kneipenschlägereien, häusliche Gewalt, Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Morde und mehr. Erfolgreiche Notwehr oder eine polizeiliche Festnahme mit Zwang sind ebenso sehr "Gewalt" wie ein Gewaltverbrechen. Gewalt ist unzweifelhaft ein sehr weiter Begriff.

Wer sich ernsthaft für Selbstverteidigung beziehungsweise Selbstschutz interessiert, der muss sich meiner Meinung nach auch mit Gewalt befassen. Es ist quasi unmöglich, sinnvolle Lösungen für etwas zu finden, wenn man das zugrunde liegende Problem nicht betrachtet .

Blutspuren

Blutspuren auf dem Fußboden - Aber wie kam es dazu?

(Siehe auch den Punkt "Wissen über Gewalt" in meinem Artikel darüber, was alles zu Selbstverteidigungstraining dazu gehören sollte.)

Wann droht Gewalt? Woran kann man das erkennen? ​Unterschiedlichen Menschen drohen in ihrem jeweiligen Alltag auch unterschiedliche Gefahren. Wie kann man Gewalt verhindern? Mit Drohgebärden? Mit Kompromissbereitschaft? Mit Flucht? Was in einer Situation hilft, macht eine andere vielleicht noch schlimmer. Welche Reaktion ist dann angebracht? Provoziert man Gewalt mit unvorteilhaften Verhalten womöglich selbst?

Auf derartige Fragen gibt es im Grunde nur eine Antwort: Es kommt auf die Situation an.

Gewalttaten wirken oft willkürlich und unberechenbar. Nichtsdestotrotz folgen sie oft bestimmten Mustern. Wer Gewalt nutzt, der möchte (bewusst oder unbewusst) irgendwas damit erreichen. Diese Ziele lassen sich erstaunlich gut kategorisieren. Und wer die grundlegende Dynamik hinter dem konkreten Einzelfall versteht, der kann auf die oben gestellten Fragen wesentlich leichter Antworten finden.

Über das folgende Modell:

Die Einteilung der Gewaltdynamiken in diesem Arikel stammt von dem amerikanischen Experten Rory Miller. Dieser hat (unter anderem) lange im Justizvollzug gearbeitet. Aus seinen dortigen Erfahrungen hat er im Lauf der Zeit die folgende Untergliederung entwickelt. Ich habe bislang kein besseres Modell zu diesem Thema gefunden. Meine eigenen Erfahrungen lassen sich sehr genau damit erklären.

Rory hat mir gestattet, sein Modell hier auf Deutsch vorzustellen. Wer mehr darüber lernen möchte, kann unter anderem in seinem Buch „Facing Violence“ nachlesen. Dort geht er auch näher auf Vermeidung und Deeskalation für die jeweiligen Situationen ein. Hier gibt es einen Artikel über das Buch.

Menschen, Gruppen und Gewalt

Gewalt lässt in zwei große Kategorien unterscheiden: Soziale und asoziale Gewalt. Diese Begriffe können zunächst leicht in die Irre führen. Häufig setzt man “sozial” mit gut und “asozial” mit schlecht gleich. Eine solche Wertung ist hier jedoch nicht gemeint. ”Sozial” bedeutet in diesem Sinne einfach nur “mit Bezug zu einer Gruppe”, während asoziale Gewalt keinen Zusammenhang mit Gruppendynamiken hat.

Wir Menschen sind Gruppenwesen. Als Einzelgänger taugen wir nicht. Wer von uns könnte wirklich alleine überleben? Ohne Werkzeug, Kleidung und Hilfsmittel, die andere für ihn hergestellt haben? Ohne Vorräte, die von anderen angelegt wurden? Menschlicher Nachwuchs muss jahrelang beschützt und versorgt werden, bevor er allein zurecht kommen kann. Wir Menschen mussten seit jeher in Gruppen funktionieren können, um zu überleben.

Dementsprechend gehen auch viele Aspekte unseres Konfliktverhaltens auf das Zusammenleben in Gruppen zurück. Alle Gewaltdynamiken, die sich direkt oder indirekt hieraus ergeben, fallen unter soziale Gewalt.​

Asoziale Gewalt hat dagegen keinerlei Bezug zu Gruppendynamiken. Sie spielt sich ohne jeden Gruppenbezug zwischen Täter und Opfer ab.

Kein Sorge falls diese Trennung erstmal abstrakt wirkt und nicht sofort einleuchtet: Bei den Erläuterungen der einzelnen Dynamiken wird der Unterschied deutlich werden.

Der Schutz der Gruppe

Aus der Tatsache, dass Menschen Gruppenwesen sind, ergibt sich ein entscheidender Punkt: Wenn Täter und Opfer Teil der gleichen Gruppe sind, fällt Gewalt meistens instinktiv so aus, dass das Opfer nicht zu schwer verletzt oder getötet wird. Ein solches Verhalten würde die Gruppe als Ganzes zu sehr schwächen. Raubtiere lösen Revierstreitigkeiten untereinander beispielsweise auch nicht auf die gleiche Art, wie sie ihre Beute reißen. Gegenüber gruppenfremden Opfern gibt es diese instinktive Zurückhaltung oftmals nicht.

Soziale Gewalt

Wie gerade dargestellt, sind wir Menschen auf Gruppen angewiesen. Das Zerbrechen einer Gruppe wäre für den längsten Teil der Menschheitsgeschichte de facto für ihre Mitglieder tödlich gewesen. Gruppen müssen zusammen halten. Sie brauchen Verhaltensregeln, die durchgesetzt werden müssen und Strukturen, um Entscheidungen treffen zu können. Genau wie beispielsweise ein Wolfsrudel haben wir gewisse Verhaltensweisen, um diese Dinge zu gewährleisten. Meistens folgen wir diesen Dynamiken völlig unbewusst.​

Soziale Gewalt umfasst jede Gewalttat, die aus derartigen Gruppendynamiken entspringt.

Der Affentanz

Fast alle Tierarten haben ritualisierte Kämpfe, um über Dominanz zu entscheiden. Diese haben eine Gemeinsamkeit: Sie werden so ausgetragen, dass normalerweise keine Seite schwer verletzt wird. Raubkatzen regeln ihre Rangordnung untereinander nicht auf die gleiche Art wie sie Beute reißen.

Auch zwischen Menschen gibt es Rangordnungen. Sie bestehen möglicherweise nur informell, aber es gibt sie. Dementsprechend muss es auch Wege geben, um Über- und Unterlegenheit festzustellen. Und einer davon ist der Affentanz: Eine körperliche Auseinandersetzung um Dominanz zu klären.

Gerade unter jungen Männern kommt es oft zu “ritualisierten” Schlägereien. Obwohl dieses Verhalten nirgendwo gelehrt wird, sehen diese Auseinandersetzungen meist ähnlich aus: Sie beginnen damit, dass sich eine Seite angestarrt, provoziert oder herausgefordert fühlt und dies zeigt. Der andere fühlt sich “angemacht” und pöbelt zurück.

Beide Personen stehen frontal voreinander und reißen oftmals die Arme nach außen um sich groß und breit zu machen. Dieser Streit steigert sich nach und nach. Irgendwann schubsen sich die Kontrahenten. Meistens greift dann einer mit einem weit ausgeholten Schwinger zum Kopf an. Oft gehen danach beide in einem Gerangel zu Boden, bis einer der beiden Beteiligten “gewonnen” hat.

Auffällig ist, dass es dabei kaum zu schweren Verletzungen kommt. Blaue Augen, gebrochene Nasen oder ausgeschlagene Zähne kommen vor. Zu schweren Verletzungen oder Todesfällen kommt es dagegen fast nur durch “Unfälle”, etwa wenn ein Kontrahent unglücklich nach hinten stützt und mit dem Hinterkopf aufschlägt.

Die frontale Stellung verhindert meist, dass wirklich effektiv zugeschlagen werden kann, um Schaden anzurichten. Weit nach außen gerissene Arme sind absolut typisch, obwohl dadurch jede Deckung aufgegeben wird. Ein Schwinger seitlich zum Kopf führt leichter zu einer gebrochenen Hand als zu einer schweren Kopfverletzung. Der ganze Ablauf des Kampfes verhindert in den meisten Fällen schwere oder tödliche Verletzungen.

Oft ist es für beide Beteiligten schwer, aus dieser Dynamik ausbrechen zu können. Beide Seiten fühlen sich im Recht und haben den Eindruck, nicht kneifen zu dürfen. Es ist ein verhältnismäßig sicherer Weg, um Rangstreitigkeiten entscheiden zu können.

Zwei interessante Details am Rande:

Häufig halten die Umstehenden beide Beteiligten und ihr Verhalten für dumm. Und wer Frauen dazu befragt, wird oft hören, wie furchtbar sie solches „Getue“ finden.

Von außen gesehen wirkt meistens die Person souveräner, die sich entschuldigt, nachgibt und die Konfrontation dadurch vermeidet. Aber wer erstmal in dieser Dynamik drin steckt, der hat nichtsdestotrotz einen hohen Drang „sein Gesicht zu wahren“ – Selbst wenn ihm eigentlich klar sein sollte, wie das Ganze nach außen wirkt.

Darüber hinaus lässt sich die gleiche Dynamik auch in Kreisen wiederfinden, in denen körperliche Gewalt verpönt ist. Hier kommt es vielleicht zu hitzigen Diskussionen, zu gegenseitiger Kritik oder zu bösartigem Humor auf Kosten des anderen. Es fehlt zwar die körperliche Komponente, doch auch hierbei geht es nicht um “Sachfragen”, sondern darum, eine Rangordnung festzulegen.

Der Gruppenaffentanz

Gruppenaffentänze zeichnen sich dadurch aus, dass mehrere Mitglieder einer Gruppe gemeinsam handeln. Gruppenaffentänze richten sich entweder gegen Fremde oder gegen ehemalige Mitglieder der Gruppe. Aus diesem Grund unterscheiden sich Gruppenaffentänze erheblich vom regulären Affentanz: Hier fällt das Opfer nicht unter den Schutz der Gruppenmitgliedschaft.

​1. Variante: Einmischung abwehren

Gruppen haben ihre eigenen Regeln und Verhaltensweisen. Interne Konflikte werden unter sich geregelt. Wenn Außenseiter versuchen, sich in interne Angelegenheiten einer Gruppe einzumischen, kann es passieren, dass sich die gesamte Gruppe gegen sie stellt. Das Ziel ist es, diese Einmischung abzuwehren beziehungsweise zu bestrafen.

Dies Phänomen ist unter anderem ein bekanntes Risiko für Polizeikräfte, die zu Einsätzen wegen häuslicher Gewalt gerufen werden. Das ehemalige Opfer kommt plötzlich dem Täter zu Hilfe und attackiert die vermeintlichen Helfer. Eine Einmischung von außen ist riskant.​

​2. Variante: Verbundenheit schaffen

Adrenalin schafft Verbundenheit. Gemeinsam durchlebte Risiken schweißen Gruppen enger zusammen. Der Zusammenhalt in Kampftruppen der Armee ist fast schon sprichwörtlich und leicht vorstellbar. Auch in gefährlichen Teamsportarten, etwa im alpinen Bergsteigen, kann schnell enge Verbundenheit entstehen.

Darüber hinaus hat die gemeinsame Gewaltausübung für manche Menschen etwas Urtümliches und Befriedigendes. Des Weiteren ist sie eine Möglichkeit, sich gemeinsam zu profilieren und sich selbst zu beweisen. Derartige Motive finden sich zum Beispiel immer wieder in Schilderungen von Hooligans.

Zur zweiten Variante des Gruppenaffentanzes kommt es, wenn die Mitglieder einer gewalttätigen Gruppe gemeinsam andere Menschen überfallen. Das Motiv ist sozial (die Verbundenheit untereinander), aber die Opfer sind Fremde.

Wenn Gruppen scheinbar aus dem Nichts andere Leute attackieren, sind meist die oben geschilderten Aspekte der Grund. Möglicherweise wird das Verhalten jedoch hinter Feindbildern (beispielsweise “Rechte”, “Linke”, “Bullen”, “Ausländer”, “Fans vom Verein XY”, etc.) kaschiert, um es vor sich selbst und anderen leichter rechtfertigen zu können.

​3. Variante: Verrat bestrafen

Diese Taten richten sich normalerweise gegen (ehemalige) Gruppenmitglieder. Menschen verabscheuen Verrat. Wenn eine Gruppe überzeugt ist, ein Mitglied hätte sie verraten, richten sich die Gruppenmitglieder meist geschlossen gegen den mutmaßlichen Verräter.

Falls Gewalt für diese Gruppe ein legitimes Mittel zur Problemlösung ist, droht dem Opfer brutale Vergeltung. Es kann zu einer regelrechten Gewaltorgie kommen, bei der das Opfer immer weiter misshandelt wird, weil kein Gruppenmitglied hinter den anderen zurück stehen möchte. Womöglich versucht jeder, den anderen zu übertreffen, weil niemand den Eindruck erwecken möchte, er habe noch Sympathie für das Opfer oder stehe möglicherweise auch nicht zu 100 Prozent hinter der Gruppe.

Verhaltenskorrigierende Gewalt

Jede Gruppe hat gewisse Regeln und Normen. Sie sind möglicherweise nirgendwo niedergeschrieben. Vielleicht sind sie den Gruppenmitgliedern nicht mal richtig bewusst. Trotzdem gibt es übliche und unübliche Verhaltensweisen, akzeptiertes und nicht akzeptiertes Verhalten.

​Wenn Personen gegen diese Regeln verstoßen, hat das Konsequenzen. Abweichendes Verhalten wird in der Regel bestraft. Wie dies stattfindet, hängt von der Gruppe und ihren Werten ab. Vielleicht wird eine Weile nicht mehr mit der Person gesprochen. Vielleicht gibt es einen abfälligen Blick. Auf der Arbeit erfolgt vielleicht eine Abmahnung. Auf alle Fälle gibt es eine Reaktion, die das Fehlverhalten für die Zukunft korrigieren soll.

Vermutlich nicht weiter verwunderlich: Wenn körperliche Gewalt für den Täter (oder genauso die Täterin) akzeptabel oder normal ist, dann wird auf Fehlverhalten vermutlich mit Gewalt reagiert. Es reicht, wenn es sich aus Tätersicht um Fehlverhalten handelt. Die "Einsicht" des Opfers soll ja gerade durch die Gewalttat erreicht werden.

Im Gegensatz zum Affentanz handelt es sich bei verhaltenskorrigerender Gewalt nicht um einen Dominanzwettkampf. Der Täter ist sich seiner Position sicher und glaubt, dass es ihm zusteht, das Gegenüber zu korrigieren. Uneinsichtigkeit führt hier übrigens häufig zu einer Eskalation der Gewalt, bis die Botschaft „angekommen" ist.​

Statussuchende Gewalt

In manchen Lebensstilen ist es nützlich, einen gewalttätigen Ruf zu haben. Er verschafft Respekt oder hält zumindest Ärger vom Hals. Bei der statussuchenden Gewalt geht es dem Täter darum, sich einen derartigen Ruf zu verschaffen oder ihn zu wahren .

Dies führt oft zu einer “Zwitter”-Konstellation: Das Motiv der Tat ist sozial (der Ruf in einem bestimmten Umfeld). Als Opfer werden jedoch meist gruppenfremde Leute heraus gesucht, weil solches Verhalten innerhalb der eigenen Gruppen oft nicht akzeptabel ist. Damit fällt das Opfer dann auch nicht unter den Schutz der gleichen Gruppenzugehörigkeit. Was genau ein Täter für seinen Ruf tut, hängt nur von seinen Vorstellungen und Hemmschwellen ab.

Statussuchende Gewalt wird gern unter einem Vorwand geführt, um die Tat nach außen leichter rechtfertigen zu können. Ein Beispiel wäre ein Affentanz, der von der überlegenen Person weiter eskaliert wird, obwohl die Dominanz bereits geregelt ist.​

Territorialverteidigung

Menschen sind territoriale Wesen. Gebiete, die wir als “unsere” wahrnehmen, werden geschützt. Auch dafür kann es ganz unterschiedliche Vorgehensweisen geben. Ein Ladenbesitzer ruft vielleicht die Polizei, um sein Hausrecht durchsetzen zu lassen. Wenn man es dagegen mit Menschen zu tun hat, für die körperliche Gewalt normal ist, dann wird die Situation vermutlich eben damit gelöst werden.​

Wer hält es alles für eine gute Idee, in ihrer Stammkneipe den Tisch einer Hooligan-Truppe zu besetzen und dann vor allen anderen Gästen darauf zu bestehen, dass der Tisch frei war und man genauso viel Recht darauf hätte?​

Das Ausmaß der Tat kommt auch hier wieder unter anderem auf das Täter-Opfer-Verhältnis an. Wenn der Konflikt unter Gruppenmitgliedern besteht oder beide Fraktionen Teil einer verbindenden größeren Gruppe sind, wird das Ganze vermutlich dem Affentanz ähneln. Falls eine Fraktion dagegen völlige Außenseiter sind oder sogar einem Feindbild entsprechen, entfällt dieser soziale Schutz.

Interessanterweise funktioniert dieser Mechanismus nicht nur für reale Örtlichkeiten. Er gilt genauso auch für Symbole, die eine Gruppe für sich beansprucht oder die man in „ihrer“ Gegend nicht trägt. Ein plakatives Beispiel: Biker-Clubs dürften wenig begeistert reagieren, wenn Fremde ihre Abzeichen kopieren und tragen oder wenn Fremde mit Abzeichen von rivalisierenden Gruppen an ihrem Clubhaus erscheinen.

Asoziale Gewalt

Alle bisherigen Gewaltdynamiken hatten ihren Ursprung direkt oder indirekt in Gruppenzugehörigenkeiten oder zwischenmenschlichen Beziehungen. Dies unterscheidet sie von der asozialen Gewalt. Asoziale Gewalt hat keinerlei Gruppenbezug. Sie geht lediglich vom Täter aus.

Diese Tatsache verleiht der asozialen Gewalt eine andere Dynamik: Während soziale Gewalt häufig durch instinktgesteuertes Konfliktverhalten beeinflusst wird (insbesondere wenn der Konflikt zwischen Mitgliedern der gleichen Gruppe besteht), ähnelt die asoziale Gewalt eher der Dynamik zwischen Jäger und Beute. Der Täter sucht den aus seiner Sicht sichersten Weg, an sein Ziel zu kommen.

​Ressourcenorientierte Gewalt

Der ressourcenorientierte Gewalttäter hat ein simples Ziel: Er möchte einen bestimmten materiellen Wert gewinnen, indem er ihn dem Opfer mit Gewalt abnimmt: Ganz gleich, ob jemand mit vorgehaltenem Messer die Herausgabe von EC-Karte und PIN erzwingt, jemandem das Smartphone aus der Hand reißt oder jemanden entführt, um Angehörige zu erpressen – Das Ziel ist stets eine Ressource.

Wie ein ressourcenorientierter Täter konkret vorgeht, ist eine Frage des individuellen Täters: Wo liegen seine Hemmschwellen, welche Erfahrungen hat er bereits gemacht, worauf hat er es abgesehen?

Prozessorientierte Gewalt

Dem prozessorientierten Gewalttäter geht es um die Tathandlung an sich. Sein „Gewinn“ ist die Gewaltausübung selbst. Möglicherweise genießt er es, andere Menschen einzuschüchtern oder Macht über sie auszuüben. Möglicherweise ist es seine Art von Frustabbau, andere Leute leiden zu lassen.​ Was auch immer in dem Täter vor sich geht: Sein Ziel ist die Gewalttat selbst.​

Dies hat logischerweise unter anderem einen erheblichen Einfluss darauf, wie sich ein solcher Täter von seiner geplanten Tat abhalten lassen könnte und welche Deeskalationsversuche vermutlich zum Scheitern verurteilt sind.

Fazit

Meiner Erfahrung zufolge denken viele Leute bei Gewalt und Selbstverteidigung in erster Linie an asoziale Gewalt wie Raubüberfälle oder Vergewaltigungen. Die Bandbreite an möglichen Gewaltursachen ist jedoch deutlich größer.

Hier ist noch einmal eine kurze Übersicht:

Soziale Gewalt

- Affentanz: Rangfolge ermitteln

- Gruppenaffentanz

         1. Einmischung abwehren

         2. Verbundenheit schaffen

         3. Verrat bestrafen​

- Verhaltenskorrigierende Gewalt: Fehlverhalten korrigieren/bestrafen

- Statussuchende Gewalt: Sich einen Ruf erarbeiten

- Territorialverteidigung: Schutz von Gebieten und Symbolen​

Asoziale Gewalt

- Ressourcenorientierte Gewalt: Ressourcen mittels Gewalt erlangen

- Handlungsorientierte Gewalt: Ziel ist die Tathandlung selbst

Es würde leider den Rahmen dieses Artikels sprengen, für jede dieser Dynamiken zusätzlich auf Vermeidung und Deeskalation einzugehen. Angesichts der Bandbreite sollte jedoch deutlich werden, dass es hierfür keine Universallösungen geben kann.

Jede diese Dynamiken kann allerdings für sich analysiert werden: Worauf kommt es dem Gegenüber an? Auf welche Weise könnte Gewalt unter diesen Umständen möglicherweise vermeiden werden? Was könnte die Situation noch schlimmer machen?

Wer sich näher mit diesem Thema befassen möchte, dem kann ich das Buch „Facing Violence“ von Rory Miller empfehlen. Darin gibt es ein eigenes Kapitel nur über Vermeidung und Deeskalation, in dem er all diese Dynamiken durchgeht (hier geht es zu meinem Bericht über das Buch).

Ich schätze dieses Modell aus mehreren Gründen: Zum einen beschreibt es meinen eigenen Erfahrungen sehr gut. Zum anderen sind es Dynamiken, die sich in einer Situation beurteilen lassen, wenn man das Modell erstmal verstanden hat. Man kann diese Ziele im Verhalten eines Täters wiedererkennen und sein eigenes Verhalten daran ausrichten.

Insbesondere ist die Einteilung prinzipienbasiert: Es geht nicht um konkrete Tathandlungen (beispielsweise "Messerangriffe"). Tathandlungen können, wie zu Beginn dieses Artikels festgestellt, sehr unterschiedlich sein. Aber die Motive hinter ganz verschiedenen Taten fallen oft unter dieselbe Dynamik. Und wer dies erkennt, der kann auch viel besser überlegen, welche Möglichkeiten sich für Vermeidung und Deeskalation bieten könnten.

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