Härte im Training: Sinn und Unsinn – Teil 1

Wie hart sollte oder muss Selbstverteidigungstraining sein? Über diese Frage habe ich schon ganz verschiedene Meinungen gehört und manch kontroverses Gespräch geführt. Muss Selbstverteidigungstraining überhaupt hart sein? Ist hartes Training vielleicht unsinnig? Kann man überhaupt sinnvoll trainieren, wenn man darauf verzichtet? Und was macht hartes Training überhaupt aus? Diesen Themen werde ich in insgesamt drei Artikeln nachgehen.

In diesem Artikel werde ich beleuchten, was Training eigentlich „hart“ machen kann und weshalb ich eine gewisse Härte im Selbstschutzbereich für wichtig halte.​

Training am Boden auf Beton

Bodenarbeit auf Beton: Im Selbstschutzbereich macht es Sinn, die Unterschiede zu Matten zu kennen.

Der zweite Artikel dieser Reihe wird sich mit den Nachteilen beziehungsweise Gefahren von hartem Training beschäftigen. Im letzten Artikel werde ich einige Möglichkeiten darstellen, wie sich diese Vorteile so in ein Training integrieren lassen, dass die Nachteile minimiert werden.

Viel Spaß damit!

Was ist "hartes" Training Überhaupt?

Meiner Erfahrung nach gibt es verschiedene Faktoren, die Training „hart“ machen können:

Ein körperlich sehr forderndes Training bis an die persönliche Belastungsgrenze ist hart. Übungen mit einem sich real widersetzenden Gegenüber, anstelle eines kooperativen Partners, sind häufig hart. Übungen mit Vollkontakt sind hart. Training, das man regelmäßig mit Blessuren verlässt, ist augenscheinlich hart. Für manche Leute ist es hart, wenn man im Training vor den anderen Teilnehmern versagen könnte. Und: Training kann sowohl körperlich, als auch emotional hart sein. Training, das den Teilnehmer mit Ängsten konfrontiert oder zwingt, eigene Grenzen zu überwinden, kann auch schon allein dadurch hart werden. Möglicherweise härter, als es körperliche Anstrengung überhaupt könnte.

All diese (und bestimmt noch viele weitere) Faktoren können zur Härte des Trainings beitragen. Letztlich ist es eine sehr individuelle Frage, wer welchen Faktor als wie hart empfindet. Im Sinne dieses Artikels ist Training umso „härter“, je mehr es durch die oben beschriebenen Facetten gekennzeichnet ist.

Welches Ziel hat das Training?

Bevor wir über Trainingshärte sprechen, stellt sich die Frage, wofür überhaupt trainiert wird: Geht es bei dem Training um Selbstverteidigung? Geht es darum eine traditionelle Kampfkunst zu beherrschen? Möchte man Wettkämpfe gewinnen? Oder wollen die Teilnehmer einfach nur ein bisschen Bewegung, sportliche Aktivität oder das Gruppengefühl genießen?

Nur wenn einem die Zielrichtung des Unterrichts bewusst ist, kann sinnvoll über die Gestaltung des Trainings nachgedacht werden.

  • Beim Wettkampfsport kommt die Trainingsgestaltung auf die Art des Wettkampfes und die Ziele der Teilnehmer an.
  • Solange es nur um das persönliche Vergnügen geht, kann das Training schlicht und ergreifend so gestaltet sein, dass es den Teilnehmern Spaß macht.
  • Bei traditionellen Kampfkünsten sollte sich die Trainingsmethodik wohl aus der Historie des Systems ergeben. (Ob sie das immer tut, sei einmal dahin gestellt.)

Der Fokus meiner Seite liegt, wie schon der Name verrät, auf Selbstschutz. Dementsprechend wird das auch der Fokus dieser Artikelreihe:

Was gibt es bei dem Thema „Trainingshärte“ zu beachten, wenn das primäre Ziel des Trainings die Vorbereitung auf eine mögliche Notwehrlage ist?

Hierbei geht es darum, eine reale, gewalttätige Konfrontation abseits eines Wettkampfs erfolgreich zu überstehen. Dies ist ein sehr konkretes Ziel. Meiner Meinung nach hat der Trainer hier die Aufgabe, die Chancen seiner Teilnehmer in einer solchen Situation zu maximieren. Dementsprechend sollte auch die Trainingsgestaltung auf dieses Ziel zugeschnitten sein. Es geht primär nicht darum, welche Übungen dem Trainer oder den Teilnehmerinnen und Teilnehmern besonders gut gefallen. Stattdessen sollte sich die Trainingsgestaltung daran orientieren, die Trainierenden möglichst gut auf eine Notwehrsituation vorzubereiten. Demnach sollte sich auch die Härte nicht hauptsächlich an dem Komfortbereich von Trainer oder Teilnehmern ausrichten, sondern auf dieses Ziel zugeschnitten sein.

Welchen Nutzen hat hartes Training in der Selbstverteidigung?

Genug der Vorrede. Um es auf den Punkt zu bringen: In meinen Augen muss Selbstschutztraining eine gewisse Härte beinhalten, um „vollständig“ zu sein. Wenn dies aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich ist, lässt sich trotzdem ein nützliches Training gestalten, aber bestimmte Aspekte werden dabei schlicht fehlen.

Wieso sehe ich das so? Eine gewisse Trainingshärte bringt für das Ziel „Selbstverteidigung“ eindeutige Vorteile mit sich, die ich im ersten Artikel dieser Reihe beleuchten möchte:

Training an der Körperlichen Belastungsgrenze

Im Training hin und wieder an die eigenen Grenzen zu gehen, hat gleich mehrere Vorteile: Zum einen steigert es die Fitness. Wer fitter ist, der kann sich besser wehren. Mehr Kraft und mehr Ausdauer sind unzweifelhaft von Vorteil.

Des Weiteren übt Training an der eigenen Belastungsgrenze den mentalen Biss. Wenn man immer im Komfortbereich bleibt, muss man nie etwas durch- oder aushalten. Das mag im Training okay sein, aber in einer Notwehrlage ist Aufgeben vermutlich keine Option. Auch wenn man gerade verliert, nach Luft schnappt und die Muskeln langsam versagen muss man weiterkämpfen. Meiner Erfahrung nach gilt für die Willenskraft genau das Gleiche wie für andere Dinge: Üben übt. Ein Weg dazu ist körperliche Anstrengung.

Training gegen Widerstand

Es ist elementar, dass der Trainingspartner hin und wieder Widerstand leistet und die Techniken nicht einfach mehr oder weniger kooperativ zulässt.

Zuerst einmal macht es viele Übungen anstrengender, was zum vorigen Punkt beiträgt. Außerdem kann man nur lernen, in welchem Moment etwas funktioniert und wann nicht, wenn der Gegner das eigene Vorhaben auch mal zu verhindern versucht. Wer immer nur mit kooperativen Partnern trainiert, wird ein böses Erwachen erleben, wenn seine Vorhaben auf einmal scheitern.

Letztlich bietet möglichst realer Widerstand einen gewissen Realitätscheck: Könnte etwas tatsächlich funktionieren? Kampfsport hat gerade mit Selbstverteidigungshintergrund immer das Problem, dass viele Inhalte nicht so geübt werden können, wie sie eigentlich eingesetzt werden sollten. Der Trainingspartner sollte nicht verletzt, geschweige denn schwer verletzt oder gar getötet werden. In Notwehr könnte aber genau das notwendig werden. Dieser Widerspruch zwischen Training und Anwendung ist einen eigenen Artikel wert, aber realer Widerstand kann zumindest einen gewissen Prüfstein darstellen. Wenn etwas schon im Training unter Druck nicht mehr funktioniert, wieso sollte es „in echt“ auf einmal anders sein? (Mitunter gibt es auf diese Frage sogar gute, berechtige Antworten. Aber gleichzeitig ist es an diesem Punkt äußerst leicht möglich, sich selbst zu belügen. Ich rate an diesem Punkt zu einer großen Portion gesunder Skepsis.)

Die Erfahrung des Verlierens

Wer körperlich an Belastungsgrenzen geht und gegen Widerstand trainiert, der wird hin und wieder auch verlieren, versagen oder aufgeben. Genau diese Erfahrung halte ich im richtigen Maß für nützlich. Sie kann vor Selbstüberschätzung bewahren und deutlich machen, weshalb Vermeidung die oberste Prämisse im Selbstschutz sein sollte. Verlieren lehrt Demut. Außerdem kann die Erfahrung des Verlierens klar machen, dass Selbstverteidigung kein Spiel ist und zu mehr Effektivität anhalten.

Schmerzen ertragen können

Wer im Training nie einen Schlag abbekommt und wem nie etwas weh tut, den kann schon der ungewohnte Schmerz eines richtigen Treffers in die Niederlage treiben. Schmerzen und Schläge sind auch nur neue Erfahrungen, solange sie nicht zu Verletzungen führen. Neue Erfahrungen neigen dazu, Menschen anfangs zu überfordern. Nach dieser Anfangsphase gewöhnt man sich jedoch auch an neue Erfahrungen und lernt einen Umgang damit. Wenn es um Selbstschutz geht, dann macht man diese Erfahrung besser im sicheren Training, als erst in einer realen Notwehrlage.

Angstmanagement

Wer im Training immer nur ganz sanft trainiert hat, wird höchstwahrscheinlich tief in sich auch wissen, dass reale Gewalt anders sein wird. Womöglich führt diese Diskrepanz aber auch zu einer „Überhöhung“ echter Gewalt: Was ist, wenn er wirklich zuschlägt? Ja, was ist dann? Das kommt ganz auf den Einzelfall an. Aber möglicherweise wird es gar nicht so schlimm, wie man es sich in der Phantasie vorstellt. Möglicherweise spürt man den Treffer kaum. Möglicherweise kann man den Treffer einfach wegstecken. Vielleicht bricht der Angreifer sich seine Faust. Wer weiß das schon? Keine Angst vor Gewalt zu haben ist dumm. Aber vor Angst schon vorher handlungsunfähig zu werden, ist genauso unglücklich. Hartes Training kann hier helfen:

  • Es kann einem zeigen, dass manche Dinge gar nicht so schlimm sind, wie in der Phantasie.
  • Man kann üben, auch dann zu handeln, wenn man Angst hat oder nervös wird.

Unter Stress handlungsfähig bleiben

Das eben genannte Angstmanagement gehört sicherlich in diesen Bereich. Es gibt allerdings noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren außer Schmerzen oder Trainingshärte, die Stress hervorrufen können. Je vertrauter einem etwas ist, desto weniger wird einen die Situation stressen und desto handlungsfähiger wird man bleiben. Auch wenn es unangenehm sein kann: Zu vollständigem Selbstverteidigungstraining gehört Stress dazu: Beleidigt werden, angeschrien werden, bedroht werden - all das lässt sich üben und an all das kann man sich ein Stück weit gewöhnen.

Stress ist kein automatischer Feind in der Selbstverteidigung. Im Gegenteil: Er ist ein Überlebensmechanismus, der uns Vorteile in einer Auseinandersetzung verschaffen sollte. Im Idealfall schärft er die Sinne, steigert unsere Reaktionsfähigkeit, senkt die Schmerzempfindlichkeit und erhöht unsere Kraft: Die Stressreaktion kann helfen, einen trägen Büromenschen in Sekunden wieder in ein Raubtier zu verwandeln.

Training in einer Toilette

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Es gibt lediglich zwei Probleme: Eine zu starke Stressreaktion kann uns auch ineffektiver oder gar handlungsunfähig machen. Gefordert sein ist gut – Überforderung nicht. Genauso problematisch ist es, wenn das vorige Training den Faktor „Stress“ nie berücksichtigt hat. Denn dann wird das Gelernte unter diesen anderen Umständen vermutlich nicht abrufbar sein. Trainingshärte ist einer von mehreren Faktoren, die hier helfen können.

Fazit

Im militärischen Bereich gibt es das englische Sprichwort „train hard, fight easy“ – Trainiere hart, kämpfe leicht. Zu diesem Sprichwort habe ich eine gespaltene Meinung: Einerseits kann die Erwartung eines „leichten Kampfes“ fatal sein. Nur weil man hart trainiert, muss die Realität nicht leicht werden. Sie könnte auch viel, viel schlimmer als jedes Training ausfallen. Aber gleichzeitig sehe ich auch einen sehr wahren Kern darin. Je mehr man im Training erlebt und durchgemacht hat, desto wahrscheinlicher wird es, den realen Notfall bewältigen zu können. Eine Auseinandersetzung wird nicht zwingend „leicht“, aber hoffentlich leichter zu bewältigen. Aus diesem Grund halte ich Härte im Selbstverteidigungstraining für einen sinnvollen Faktor. Der Mensch ist ein adaptives Wesen. In einem gewissen Rahmen passt er sich an, wenn er gefordert wird. Es ist besser, im Training regelmäßig gefordert zu werden, als zum ersten Mal in einer Notwehrlage. Diese wird durch totale Überforderung sicherlich nicht besser.

Heißt das jetzt, dass Training immer und überall hart sein sollte oder dass Härte zwingend besser ist? Nicht so schnell. Natürlich hat hartes Training auch seine Grenzen und Schattenseiten. Es gibt auch Gründe, lieber nicht zu hart zu trainieren. Damit werde ich mich im zweiten Teil dieser Reihe befassen.

Bis demnächst!

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