Selbstverteidigung trainieren: Was gehört alles dazu?

​"Selbstverteidigung" kann zweifellos eine sehr komplexe Angelegenheit sein. Aber mit welchen Themen sollte man sich befassen, wenn man für Selbstverteidigung trainieren möchte? Und was sollte man thematisieren, falls man selbst Selbstverteidigung unterrichtet?

In diesem Artikel möchte ich aufzeigen, welch vielfältige Themen für erfolgreiche Selbstverteidigung eine Rolle spielen können.

Meiner Meinung nach muss gutes Selbstverteidigungstraining all diese Bereiche umfassen. Andernfalls stellt das Training vielleicht einen nützlichen Baustein dar, aber mehr nicht.

Selbstverteidigung

Selbstverteidigung: Einige Gedanken in Stichworten

Viel Spaß beim Lesen! ​

Die Gliederung dieses Artikels geht auf das Buch "Facing Violence" von Rory Miller zurück.

Für mich ist "Facing Violence" das beste Buch über Selbstverteidigung schlechthin. Wer mehr über die Themen in diesem Artikel lernen möchte und gut genug Englisch lesen kann, dem kann ich es nur empfehlen.

Hier geht es zu meinem Bericht über das Buch.

1. Jura und Ethik

Jura und Ethik? Ja, das ist mein Ernst. Es kann eine gefährliche Situation noch schlimmer machen, wenn man sich nie mit diesen Themen befasst hat. Trotzdem wird diese Grundlage gern außer Acht gelassen. Sie besteht aus zwei Facetten:

  • Jura: Was sagt das Gesetz?
  • Ethik: Was macht gutes und schlechtes Handeln aus?

Jura: Wer sich selbst schützen können möchte, der sollte sich auch mit Notwehrrecht befassen – Punkt. Wann und wogegen darf man sich wehren? Wie weit darf man gehen? Wo lauern besondere Fallstricke? Diese Dinge sollte man wissen. Ansonsten drohen zwei Gefahren:

  1. Entweder man traut sich im entscheidenden Moment nicht zu handeln, weil man unsicher ist, was man überhaupt darf.
  2. Oder man folgt unwissender Weise seinem Gefühl und landet danach womöglich auf der Anklagebank. Gefühle können trügerisch sein.

Es ist wichtig, Notwehrrecht gründlich zu recherchieren. Man sollte nicht einfach dem erstbesten Menschen glauben, der großspurig etwas behauptet. Meiner Erfahrung nach gibt es in diesem Bereich viel gefährliches Halbwissen. Man kann und muss logischerweise nicht gleich Jura studieren. Es schadet aber nicht, mal in ein passendes Fachbuch in der Bibliothek zu schauen oder mit einem Anwalt zu sprechen. Das gilt übrigens insbesondere, falls man selbst andere Leute in Selbstverteidigung unterrichten möchte.

Eine Tücke können Selbstverteidigungs-Bücher aus anderen Ländern sein. Ein amerikanisches Buch schildert vermutlich das amerikanische Recht, selbst wenn es ins Deutsche übersetzt wurde. Treffen die Behauptungen auch auf das eigene Land zu?

(Und ein ähnliches Problem am Rande: Weiß man zumindest ganz grob, was am Urlaubsort gilt?)

Im Zweifelsfall hilft es vor Gericht wenig, wenn man falsch informiert war oder keine Ahnung hatte.

Ethik: Ethik ist ein weites Feld. Auch hier geht es logischerweise nicht um ein Philosophiestudium. Die wichtigen Fragen für Selbstverteidigung klingen vielleicht banal (sind es aber nicht):

Welches Verhalten kann ich persönlich noch tolerieren? Welches Verhalten werde ich persönlich nicht hinnehmen? Für was riskiere ich eine körperliche Auseinandersetzung? Wie weit bin ich bereit zu gehen? Für was?

Auch hier lauern zwei Fallstricke, wenn man nie darüber nachdenkt:

  1. Man kann von einem plötzlichen Ereignis schnell überrollt werden. Wie soll man jemandem anderes Grenzen setzen können, wenn man sich selbst gar nicht sicher ist wo die eigenen Grenzen überhaupt liegen?
  2. Andererseits kann man auch schnell überreagieren, wenn eine Situation emotional wird. Etwa, wenn man nicht mehr erkennt, dass überhaupt keine körperliche Bedrohung (mehr) vorliegt und zeitgleich das Ego angekratzt ist.

Diese beiden Stolperfallen sollte man soweit wie möglich vermeiden. Also sollte man in Ruhe darüber nachdenken, wo die persönlichen roten Linien verlaufen. Stress macht es weder leichter noch schneller, Entscheidungen zu treffen (geschweige denn, dabei noch gute Entscheidungen zu treffen).

Ist es eine Garantie, im Voraus über Ethik nachzudenken? Nein. Natürlich nicht. Aber wer sich vorher nie damit befasst hat, der muss in einer Extremsituation ganz plötzlich auch noch seine Wertvorstellungen sortieren. Besser macht es das normalerweise nicht.

2. Wissen über Gewalt

Wie zum Teufel soll man Gefahren erkennen können, wenn man gar nicht weiß, wie und warum es zu Gewalt kommt? Es gibt nicht einfach „den Gewalttäter“. Es gibt ganz unterschiedliche Motive und Situationen, die zu Gewalt führen können. Je früher man eine solche Entwicklung erkennt, desto mehr Möglichkeiten hat man.

Um es gleich vorwegzunehmen: Natürlich gibt es auch Situationen, die wirklich überraschend sind. Darauf werde ich später eingehen.

Aber viele Situationen sind eben nicht „plötzlich da“. Sie entwickeln sich. Wahrnehmung spielt eine zentrale Rolle dabei, solche Entwicklungen früh zu erkennen. Wer „blind“ durch das Leben geht und nicht auf seine Umgebung achtet, der lebt deutlich unsicherer. Das gilt übrigens nicht nur für Gewalt, sondern auch für Verkehrsunfälle und ähnliches. Aber Wahrnehmung allein hat noch keinen Wert ohne Verständnis. Es hilft nichts, nur einen Ball zwischen zwei Autos hindurch auf die Straße rollen zu sehen. Man muss auch wissen, dass Kinder gern Bällen hinterherlaufen Genauso hilft alle Wahrnehmung der Welt nichts, wenn man die möglichen Vorzeichen einer bedrohliche Situation nicht als solche erkennen kann.

So wie ein Arzt sich mit Krankheiten auskennen muss, muss Selbstverteidigungstraining ein Verständnis für Gewalt vermitteln.

3. Vermeidungs- und Deeskalationsstrategien

Verständnis für Gewalt ist ein guter Anfang. Wer das hat, kann Vermeidung und Deeskalation differenzierter betrachten: Mit welchen Auslösern für Gewalt könnte man es in seinem eigenen Leben zu tun bekommen? Womit wird man höchstwahrscheinlich nie in Kontakt geraten? Wann und wo ist welche Art von Gewalt wahrscheinlich? Woran kann man Gefahren erkennen? Wie kann man sich in den unterschiedlichen Situationen verhalten, um Gewalt vielleicht noch zu vermeiden?

Vermeidungs- und Deeskalationsstrategien müssen individuell für die jeweilige Person glaubwürdig sein und zur Ursache für die drohende Gewalt passen. In diesem Bereich gibt es  mitunter gern kurze Floskeln oder Behauptungen. Meiner Meinung nach greifen stark verallgemeinerte „Lösungen“ zu kurz. Was die eine Situation beruhigt, macht eine andere vielleicht noch schlimmer. Womit man die eine Gefahr vermeidet, hat man eventuell überhaupt keinen Einfluss auf die andere.

Niemand nutzt die gleiche Formel, um verschiedene mathematische Probleme zu lösen. Wieso sollte das mit Gewalt funktionieren?

Wer sich gründlich mit den verschiedenen Ursachen von Gewalt befasst hat, der kann sich für jede dieser Ursachen die Frage stellen: Wie lassen sich solche Situationen vermeiden? Wie lassen sich solche Situationen deeskalieren?

Wer auf diese Fragen gute Antworten hat, die sich im Alltag umsetzen lassen, der lebt meiner Meinung nach schon viel sicherer. Und dabei war noch überhaupt keine körperliche Gegenwehr erforderlich. Selbst Leute, die eine absolute Hemmung haben, sich körperlich zu wehren, können solche Punkte beachten.

Natürlich gibt es Situationen, die sich einfach nicht vermeiden und deeskalieren lassen. Es gibt keine Garantien. Aber nichtsdestotrotz lassen sich viele Situationen vermeiden, wenn man aufmerksam ist und weiß was man tut.

4. Der Umgang mit Überraschung: konditionierte Reaktionen auf plötzliche Angriffe

Aufmerksamkeit ist wichtig. Zu wissen, worauf man achten sollte, ist fast genauso wichtig. Es gibt nur ein Problem: Manchmal übersieht man eben etwas. Und manchmal kann man eine Gefahr auch gar nicht im Voraus erahnen. Manche Täter schlagen nur dann zu, wenn man sie vorher nicht als Bedrohung erkannt hat. Oder man hatte einen schlechten Tag und ist abgelenkt – das passiert eben. Und wenn man in solch einer Situation ist, dann helfen Vermeidung und Deeskalation leider herzlich wenig.

Stattdessen ist man jetzt in folgender Situation: Der Täter hat einen Plan und handelt. Man selbst ist betroffen und weiß überhaupt nicht, was los ist. Das ist eine äußerst unglückliche Situation. Die Karten sind leider von vornherein gegen das Opfer gemischt. Aus diesem Grund funktionieren Hinterhalte so gut.

In so einer Situation ist keine Zeit, eine passende Reaktion zu erdenken. Stattdessen gibt es nur eine Möglichkeit: Man muss den Täter sofort unter Druck setzen. Er hat seinen Plan und geht von dessen Gelingen aus (sonst hätte er wohl nicht angegriffen). Wenn sich die Ereignisse auf einmal anders entwickeln ist das für ihn auch eine Überraschung. Für das Opfer ist ein kurzzeitig perplexer Angreifer schon eine Verbesserung: Dies kommt hoffentlich mit einem Sekundenbruchteil Luft einher, weil der Täter sich jetzt auch auf eine neue Situation einstellen muss.

Die große Frage ist nur: Wie erzielt man diese Reaktion auf einen überraschenden Angriff? Da keine Zeit zum Planen da ist, kann man seine Reaktion nicht auf den Angriff abstimmen. Wer sich auf so etwas vorbereiten möchte, muss sich eine möglichst allgemeine Reaktion antrainieren. Es muss etwas sein, das…

  • …sich selbst schützt
  • …den Gegner sofort unter Druck setzt
  • …keine komplizierten Bewegungen erfordert
  • …gegen möglichst viele Angriffe wirkt
  • …noch einen gewissen Effekt hat, wenn es nur halbherzig umgesetzt wird

Keine einfache Liste. Vorweg: Die perfekte Lösung habe ich noch nicht gesehen. Jeder mir hier bekannte Ansatz hat seine Schwächen. Aber in solch einer Situation ist nun mal keine Perfektion möglich. Es geht nur darum, aus der Überraschung heraus irgendwie noch zum Gegenangriff zu kommen.

Aus diesem Grund reicht es auch nicht, eine solche Technik einfach nur mit einem kooperativen Partner durchzuspielen. Sie muss als Reaktion auf körperlich bedrohliche Reize konditioniert werden.

Selbst dann ist nicht garantiert, dass man aus völliger Überraschung heraus so reagiert wie erhofft. Aber ich denke, den Punkt mit den Garantien habe ich inzwischen oft genug betont.

5. Der Umgang mit Schreckstarre: Ein Thema ohne einfache Lösungen

Auch dies ist ein Punkt, der meiner Erfahrung nach in Selbstverteidigungstrainings gern außen vorgelassen wird. Wer wirklich überrascht wird, der erlebt eine Schreckstarre. Vielleicht ist es nur ein Sekundenbruchteil, aber sie ist da.

Und darüber hinaus gibt es auch noch diverse andere Gründe, weshalb Menschen psychisch handlungsunfähig werden.

Dieser Punkt ist meiner Meinung nach am Schwersten zu trainieren. Nichtsdestotrotz halte ich es für wichtig, ihn in irgendeiner Form zu thematisieren. Das absolute Minimum ist es, sich darüber bewusst zu sein, dass es Schreckstarre gibt und das sie einen treffen kann.

6. Fähigkeiten für körperliche Auseinandersetzungen

Eine Gefahr ließ sich nicht im Voraus vermeiden und auch nicht deeskalieren. Es gibt Situationen, in denen es keine andere Wahl gibt, als sich mit körperlicher Gewalt zur Wehr zur setzen. Handelt man in dem Augenblick, in dem der andere angreift? Oder ist man sich sicher, dass Gewalt unvermeidbar ist und handelt präventiv? Hoffentlich hat man sich darüber vorher Gedanken gemacht, weiß, was das Notwehrrecht zulässt und wie man das danach erklärt…

Oder ein Angriff erfolgt überraschend, scheinbar „aus dem Nichts“. Die Situation ist chaotisch. Man hat irgendwie reflexhaft reagiert. Womöglich weiß man gar nicht genau, wie einem geschieht. Ist man verletzt? Keine Ahnung. Aber irgendetwas muss man machen…

Wie auch immer es dazu gekommen ist: Man ist in einer körperlichen Auseinandersetzung. Zum Glück ist man sowohl körperlich als auch vom Kopf her noch handlungsfähig. Die erste Schreckstarre ist verflogen.

Ist man erst einmal in einer solchen Situation, helfen nur kämpferische Fähigkeiten und eine kämpferische Einstellung. Wer innerlich aufgibt, dem hilft all sein körperliches Können nicht mehr, während eine unbeugsame Einstellung fehlendes ‚Können‘ kompensieren kann.

Auch dieser Bereich ist komplexer, als man vielleicht denkt: Was ist das eigene Ziel?

  • Entkommen?
  • Den Angreifer unter Kontrolle bringen?
  • Den Angriff schnellstmöglich beenden?

Alle diese Ziele brauchen teils ähnliche und teils unterschiedliche Fähigkeiten. Vor allem sollte man sich Gedanken machen, in welcher Situation welches Ziel angebracht ist. Dies ist in meinen Augen besonders wichtig, falls man einen Kampfsport trainiert, um sich wehren zu können. Viele Systeme konzentrieren sich auf ein ganz bestimmtes Ziel. Wenn man sich dies nie bewusst macht, wird man unter Stress vermutlich genau darauf zurück fallen. Aber ist das im Training übliche „Ziel“ auch immer für den Selbstschutz geeignet? Wann passt es, wann nicht?

Und wie ist die Situation: Was unterscheidet eine Notwehrlage vielleicht vom Training?

  • Sind es mehrere Angreifer?
  • Drohen Gefahren durch Waffen oder gefährliche Gegenständen?
  • Ist man in einer gefährlichen Umgebung mit Kanten, Stufen oder Scherben?
  • Wie wirken sich Stress und Adrenalin aus?

Diese Liste ließe sich fast beliebig weiter führen. Sie soll nur andeuten, wie viele Faktoren in körperliche Auseinandersetzungen hineinspielen können.

Lassen sich all diese Punkte hundertprozentig unter Kontrolle kriegen, wenn man genug trainiert? Nein, leider nicht. Es gibt keine Garantien. Im Extremfall kann selbst ein ‚harmloser‘ Schubs zu einem unglücklichen, tragischen Sturz und einer tödlichen Kopfverletzung führen. Jedes noch so böse Wort ist körperlich erst einmal unschädlich. Dagegen kann jede körperliche Auseinandersetzung eskalieren oder einen tragischen Ausgang nehmen (den womöglich nicht mal die andere Seite gewollt hat).

Körperliche Selbstverteidigung kann daher in meinen Augen immer nur das letzte Mittel sein. Jeder andere Ansatz widerspricht dem grundsätzlichen Ziel, möglichst sicher zu leben und gefährliche Situationen möglichst unbeschadet zu überstehen.

Und wer innerlich von vornherein auf eine Konfrontation aus ist? Der wird am Ende womöglich aus einem Streit heraus in eine wechselseitige Körperverletzung verwickelt und wundert sich dann, dass Staatsanwaltschaft und Richter keine Notwehr erkennen können.

Nichtsdestotrotz gibt es Situationen, die sich eben nur mit körperlicher Gewalt lösen lassen. Die Annahme, dass sich jede Gewalttat mit Worten und Deeskalation vermeiden ließe, wäre jedenfalls genauso naiv, wie die Meinung, Deeskalation sei überflüssiger Quatsch.

7. Das Nachspiel von Selbstverteidigung: mögliche Konsequenzen

Endet eine gefährliche Situation damit, dass man sie bewältigt hat? Das kommt ganz drauf an. Falls man die Situation vermeiden oder deeskalieren konnte, stehen die Chancen hoffentlich gut. Leider sind Ausnahmen (wie beispielsweise eine spätere Rache für einen vermeintlichen Gesichtsverlust) unter bestimmten Umständen trotzdem vorstellbar.

Aber falls es zu einer körperlichen Auseinandersetzung gekommen ist, droht danach definitiv noch mehr Ärger (ein weiterer Grund, dieses Szenario wenn möglich zu vermeiden). Die möglichen Konsequenzen lassen sich in vier Aspekte aufteilen:

Die körperliche Gesundheit: Man kann selbst verletzt worden sein. Fehlende Zähne, gebrochene Knochen, kaputte Gelenke, entstellende Narben, Querschnittslähmung, Hirnverletzungen – Sobald es körperlich wird, werden solche Verletzungen möglich. Ab diesem Augenblick sind alle Arten von Verletzungen nur noch Fragen der Wahrscheinlichkeit: Natürlich ist ein Schubser harmloser als eine abgeschlagene Flasche. Aber dem einen Opfer, das ganz dumm stürzt und danach nie wieder gesund wird, dem hilft diese Wahrscheinlichkeit leider überhaupt nichts.

Die seelische Gesundheit: Eine gewalttätige Auseinandersetzung kann auch psychische Probleme nach sich ziehen. Dies muss nicht zwangsläufig der Fall sein. Und ich wünsche jeder Person, die gegen ihren Willen in Gewalt verwickelt wird, dass sie das Geschehen gut verkraftet. Aber manchmal ist das nicht der Fall – unabhängig davon, ob man selbst verletzt wurde oder den Angreifer geschädigt hat, ob man gewonnen oder verloren hat. Extremerfahrungen können nun mal traumatisieren.

Juristische Risiken: Wer sagt, dass sich die Notwehrlage vor Gericht eindeutig beweisen lässt? Womöglich sitzt man am Ende auch dann auf der Anklagebank, wenn man sich eigentlich nur gewehrt hat. Darüber hinaus klagt der geschädigte Angreifer womöglich auf Schmerzensgeld oder sonstigen Schadensersatz, sei es für zerstörte Kleidung oder ein angeblich beschädigtes Handy. Eins ist sicher: Die meisten Gewalttäter haben keinen Moralkodex, vor Gericht auch ja die Wahrheit zu sagen. Im Gegenteil…

Racheakte: Eine weitere große Gefahr kann Rache sein. Je nachdem, wer der Täter war und aus welchem Umfeld er kommt, könnte Rache durch den Angreifer selbst, Freunde oder Familie drohen. Gelungene Selbstverteidigung kann leider bedeuten, lange vorsichtig sein zu müssen. Nachstellung und Bedrohung können schon reichen, um das Leben zur Hölle zu machen. Selbst wenn der Angreifer nichts von langer Hand plant, kann Vorsicht nicht schaden. Wer weiß, ob er nicht spontan die günstige Gelegenheit ergreift, wenn er einen am nächsten Wochenende im gleichen Club wiedersieht und man selbst ihn nicht mal bemerkt?

Kann man sich auf diese Gefahren vorbereiten? Das ist schwierig. Teilweise ja, teilweise nein. Auf alle Fälle macht es Sinn, sich dieser Probleme bewusst zu sein, um nicht kalt erwischt zu werden, falls man eines Tages aus dem Nichts heraus in Schwierigkeiten gerät.

Eine Sache kann man auf alle Fälle üben: Falls es zu einem Gerichtsverfahren kommt, wird man sich und sein Verhalten erklären müssen. Natürlich steht es einem frei, keine Aussage zu machen. Aber Notwehr als Rechtfertigungsgrund lebt davon, dass man sich erklärt. Also kann man Situationen gedanklich durchspielen und überlegen, wie sie sich rechtfertigen ließen und wie die Gegenseite diese Rechtfertigung untergraben könnte. Persönlich bin ich ein großer Freund davon, so etwas auch in Selbstverteidigungstrainings gezielt einzustreuen. Gute Kenntnisse des Notwehrrechts sind hier natürlich hilfreich.

Fazit

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, was für ein komplexes Thema Selbstverteidigung beziehungsweise Selbstschutz sein kann und wie viele verschiedene Aspekte hier eine Rolle spielen können. Gleichzeitig hoffe ich aber auch, dass diese Liste niemanden ‚erschlagen‘ hat. Es gibt offensichtlich viele Bereiche, mit denen man sich befassen kann. Aber es ist auch kein magisches Hexenwerk.

Wer so weit gehen möchte, kann sehr viel Zeit damit verbringen, seine eigenen Fähigkeiten zum Selbstschutz zu verbessern. Die Frage ist, für wen das Sinn macht. Darauf kann ich hier keine Antwort geben. In einem zivilisierten Land der westlichen Welt drohen vielen Leuten statistisch gesehen kaum noch Gefahren. Aber die Wahrscheinlichkeit hängt auch sehr vom individuellen Lebensstil ab. Darüber hinaus ist es eine Frage von geringer Wahrscheinlichkeit und hohem Risiko. Gewalt mag unwahrscheinlich sein – Aber falls es einen trifft, kann alles auf dem Spiel stehen. Wie viel man hier zur Absicherung tun möchte, muss jeder Mensch selbst wissen. Diese Entscheidung kann einem niemand abnehmen.

Ein solides Verständnis von Gewaltdynamiken, Vermeidung und Deeskalation kann meiner Meinung nach schon viel Ärger vermeiden.

Also: Wo fängt man an, wenn man mehr machen möchte? Ich bin der Ansicht, dass man bei diesem Thema selbst Verantwortung übernehmen muss.In meinen Augen ist es ein Widerspruch, sich selbst schützen können zu wollen und gleichzeitig der Verantwortung vollständig an ein Buch, eine Website oder einen Trainer zu übertragen.

Hinterfrage alles. Überlege Dir, ob Dich die Begründungen für Behauptungen überzeugen. Und besorg Dir selbst die Informationen, die Du für wichtig hälst. Meine Liste oben ist vielleicht ein guter Anfang. Rechne nicht damit, all diese Bereiche mit einer einzigen Quelle abdecken zu können. Egal – nimm mit, was passt und verwirf den Rest. Ein Kampfsporttraining ohne die Punkte eins bis fünf kann trotzdem gute Körpermechanik vermitteln. Versuche in dem Fall, die anderen Bereiche nach und nach woanders mitnehmen zu können. Hab den Mut, Trainer oder Dozenten nach ihren Erklärungen zu fragen.

Gehe aufmerksam durch das Leben. Nimm wahr, was um Dich herum los ist. Achte nicht nur auf Gefahren: Sei einfach ein Beobachter. Sieh das Schöne, das Komische und Deinen Kumpel, der dich noch nicht entdeckt hat. Das ist leichter durchzuhalten, als die nächsten X Jahre nach einer Gefahr zu suchen, die vielleicht nie auftauchen wird. Aber falls eine Gefahr droht, Du die Anzeichen wahrnimmst und auch erkennst, weil Du dich ein bisschen mit Gewaltdynamiken auskennst? Dann hast Du schon viel gewonnen.

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